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Höffners Fleißarbeit ist die erste wis-

senschaftliche Arbeit, in der die Auswir-


kungen des Urheberrechts über einen ver-
gleichbar langen Zeitraum und anhand
eines direkten Vergleichs zweier Länder
untersucht wird. Seine Erkenntnisse sor-
gen in der Fachwelt für Aufregung. Denn
bislang galt das Urheberrecht als große
Errungenschaft und Garant für einen flo-
rierenden Buchmarkt. Demnach werden
Autoren nur dann zum Schreiben ani-
miert, so die Lehrmeinung, wenn sie ihre
Rechte gewahrt wissen.
Doch zumindest der historische Ver-
gleich kommt zu einem anderen Ergebnis.
In England nutzten die Verleger ihre Mo-
nopolstellung schamlos aus. Neuheiten
erschienen meist nur in einer geringen
Auflage von maximal 750 Exemplaren
und zu einem Preis, der häufig den Wo-
chenlohn einer ausgebildeten Arbeits-
kraft überstieg.
Die prominentesten Verleger in Lon-

KEYSTONE
don verdienten trotzdem prächtig und
fuhren teils mit vergoldeten Droschken
Maschinenfabrik bei Krupp in Essen 1900: Abschied vom rückständigen Agrarstaat umher. Ihre Kunden waren Reiche und
Adlige, die Bücher als reine Luxusgüter
betrachteten. In den wenigen vorhande-
GESCHICHTE
nen Bibliotheken wurden die kostbaren
Folianten zum Schutz vor Dieben an den

Explosion des Wissens Bücherregalen festgekettet.


In Deutschland hingegen saßen den
Verlegern Plagiatoren im Nacken, die
jede Neuerscheinung ohne Furcht vor
Hat Deutschland im 19. Jahrhundert einen industriellen Aufstieg Strafe nachdrucken und billig verkaufen
erlebt, weil das Land kein Urheberrecht kannte? Mit dieser durften. Erfolgreiche Verlage reagierten
Analyse sorgt ein Münchner Wirtschaftshistoriker für Aufsehen. mit Raffinesse auf die Abkupferer und
ersannen eine Form der Publikation, wie

D
as ganze Land befindet sich im Niveau. Gedruckt wurden Romane, vor sie noch heute üblich ist: Sie gaben edle
Leserausch. Selbst Buchhändlern allem aber wissenschaftliche Fachauf- Ausgaben für Wohlhabende heraus und
wird die plötzliche Neigung zur sätze. Ganz anders die Lage in England: günstige Taschenbücher für die Masse.
Lektüre unheimlich. Die Deutschen, kon- „Man sieht in Großbritannien einen für So entstand ein ganz anderer Buch-
statiert der Literaturkritiker Wolfgang die Zeit der Aufklärung und bürgerlichen markt als in England: Bestseller und wis-
Menzel 1836, seien ein „Volk von Dich- Emanzipation kläglichen Verlauf“, kon- senschaftliche Werke wurden in großer
tern und Denkern“. statiert Höffner. Stückzahl und zu Ramschpreisen unters
„Dieser berühmt gewordene Satz wur- In der Tat: Gerade mal tausend neue Volk gebracht.
de gründlich missverstanden“, behauptet Werke erschienen damals in England pro „So viel tausend Menschen in den ver-
nun der Wirtschaftshistoriker Eckhard Jahr – zehnmal weniger als in Deutsch- borgensten Winkeln Teutschlands, welche
Höffner, 44. „Er zielte nicht auf die land. Das blieb nicht ohne Folgen: Wegen unmöglich, der theuren Preise wegen, an
Creme der Literaten wie Goethe oder des chronisch schwachen Buchmarkts, Bücher kaufen denken konnten, haben
Schiller, sondern auf die Tatsache, dass glaubt Höffner, verspielte die Kolonial- nach und nach eine kleine Bibliothek mit
in Deutschland eine unvergleichlich große macht England innerhalb eines Jahrhun- Nachdrucken zusammengebracht“, notier-
Masse an Lesestoff produziert wurde.“ derts ihren Vorsprung – während der te der Historiker Heinrich Bensen verzückt.
Höffner hat die frühe Blütezeit des rückständige Agrarstaat Deutschland Die Aussicht auf eine breite Leserschaft
Gedruckten hierzulande beleuchtet und mächtig aufholte und bis 1900 zur eben- motivierte vor allem Wissenschaftler, ihre
kommt zu einem überraschenden Befund: bürtigen Industrienation aufstieg. Forschungsergebnisse zu verbreiten. „Eine
Anders als in den Nachbarländern Eng- Noch verblüffender mutet die Ursache völlig neue Form der Wissensvermittlung
land und Frankreich habe sich in Deutsch- an, die Höffner für diese Entwicklung aus- setzte ein“, analysiert Höffner.
land im 19. Jahrhundert eine beispiellose gemacht hat: Ausgerechnet das Copy- Außer der mündlichen Überlieferung
Explosion des Wissens vollzogen*. right, das die Briten bereits 1710 einge- durch einen Lehrmeister oder Gelehrten
Deutsche Autoren schrieben sich da- führt hatten, ließ nach seiner Ansicht die an der Universität kannte die damalige
mals die Finger wund. Allein im Jahr 1843 Welt des Wissens im Vereinten König- Zeit kaum Wege der Verbreitung von neu-
erschienen etwa 14 000 neue Publikatio- reich veröden. en Erkenntnissen. Nun kursierte im Land
nen – gemessen an der damaligen Bevöl- In Deutschland hingegen scherte sich plötzlich eine Vielzahl anspruchsvoller
kerungszahl, war das fast schon heutiges lange Zeit niemand um Autorenrechte. Abhandlungen.
Preußen führte das Urheberrecht 1837 So meldete das „Literatur-Blatt“ 1826:
* Eckhard Höffner: „Geschichte und Wesen des Ur-
ein. Doch wegen andauernder Kleinstaa- „Die größte Menge von Schriften handelt
heberrechts“. Verlag Europäische Wirtschaft, München; terei war das Gesetz im Reich zunächst von Naturgegenständen aller Art, und vor-
436 Seiten; 68 Euro. kaum durchzusetzen. züglich von der praktischen Anwendung
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Wissenschaft

der Naturkunde in Medicin und „Aus diesem regen wissen-


Gewerben, Landwirthschaft & c.“ schaftlichen Diskurs hat sich die
Am laufenden Band verfass- Gründergeneration entwickelt“,
ten Gelehrte in Deutschland so Höffner. Jene Zeit brachte
Traktate und Ratgeber, die sich spätere Großindustrielle wie Al-
mit Chemie, Mechanik, Maschi- fred Krupp und Werner von Sie-
nenbau, Optik oder der Stahlpro- mens hervor.
duktion beschäftigten. In Groß- Der Markt für wissenschaftli-
britannien fröhnte derweil ein che Literatur brach selbst dann
elitärer Zirkel einem klassischen nicht zusammen, als sich in den
Bildungskanon, der sich eher um vierziger Jahren des 19. Jahrhun-
Belletristik, Philosophie, Theolo- derts allmählich auch in Deutsch-
gie, Sprachen und Geschichts- land das Urheberrecht durch-

MARY EVANS / INTERFOTO


schreibung drehte. setzte. Die deutschen Verleger
Praktische Anleitungen, wie reagierten auf die neue Lage al-
sie in Deutschland massenhaft lerdings ähnlich restriktiv wie
gedruckt wurden – etwa zur ihre Kollegen in England: Sie
Deichbaukunde oder zum Ge- schraubten die Buchpreise in die
treideanbau –, fehlten weitge- Neuzeitlicher Buchdruck*: Bestseller zu Ramschpreisen Höhe und schafften den Billig-
hend. „In Großbritannien war markt ab.
man bei der Verbreitung dieser nützli- Mary Shelley mit ihrem bis heute be- Die Literaten, nunmehr mit Rechten
chen modernen Erkenntnisse auf die mit- rühmten Horrorstück „Frankenstein“. am eigenen Werk versehen, reagierten
telalterliche Methode des Hörensagens Der Handel mit Fachliteratur lief so irritiert. So schrieb Heinrich Heine am
angewiesen“, sagt Höffner. gut, dass die Verleger ständig um Nach- 24. Oktober 1854 in angesäuerter Ge-
Die deutsche Wissensoffensive führte schub bangten. Diese Situation verlieh mütslage an seinen Verleger Julius Cam-
zu einer kuriosen Situation, die damals selbst den weniger begabten unter den pe: „Durch den ungeheuer hohen Preis,
freilich kaum jemandem aufgefallen sein Wissenschaftsautoren eine gute Verhand- den Sie angesetzt, werde ich schwerlich
dürfte: So erwirtschaftete der längst in lungsposition gegenüber den Verlegern. so bald einen zweyten Abdruck des
Vergessenheit geratene Berliner Professor Etliche Professoren verdienten sich neben Buchs erleben. Aber geringe Preise, liebs-
für Chemie und Pharmazie, Sigismund ihrem Gehalt ein beachtliches Zubrot mit ter Campe, müssen Sie setzen, sonst sehe
Hermbstädt, mit seinem Werk „Grund- Ratgebern und Info-Broschüren. ich wirklich nicht ein, warum ich bei mei-
sätze der Ledergerberei“ (1806) ein hö- nen materiellen Interessen so nachgiebig
heres Honorar als die britische Autorin * Holzschnitt aus dem 17. Jahrhundert. war.“ F���� T�������

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