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KEYSTONE
don verdienten trotzdem prächtig und
fuhren teils mit vergoldeten Droschken
Maschinenfabrik bei Krupp in Essen 1900: Abschied vom rückständigen Agrarstaat umher. Ihre Kunden waren Reiche und
Adlige, die Bücher als reine Luxusgüter
betrachteten. In den wenigen vorhande-
GESCHICHTE
nen Bibliotheken wurden die kostbaren
Folianten zum Schutz vor Dieben an den
D
as ganze Land befindet sich im Niveau. Gedruckt wurden Romane, vor sie noch heute üblich ist: Sie gaben edle
Leserausch. Selbst Buchhändlern allem aber wissenschaftliche Fachauf- Ausgaben für Wohlhabende heraus und
wird die plötzliche Neigung zur sätze. Ganz anders die Lage in England: günstige Taschenbücher für die Masse.
Lektüre unheimlich. Die Deutschen, kon- „Man sieht in Großbritannien einen für So entstand ein ganz anderer Buch-
statiert der Literaturkritiker Wolfgang die Zeit der Aufklärung und bürgerlichen markt als in England: Bestseller und wis-
Menzel 1836, seien ein „Volk von Dich- Emanzipation kläglichen Verlauf“, kon- senschaftliche Werke wurden in großer
tern und Denkern“. statiert Höffner. Stückzahl und zu Ramschpreisen unters
„Dieser berühmt gewordene Satz wur- In der Tat: Gerade mal tausend neue Volk gebracht.
de gründlich missverstanden“, behauptet Werke erschienen damals in England pro „So viel tausend Menschen in den ver-
nun der Wirtschaftshistoriker Eckhard Jahr – zehnmal weniger als in Deutsch- borgensten Winkeln Teutschlands, welche
Höffner, 44. „Er zielte nicht auf die land. Das blieb nicht ohne Folgen: Wegen unmöglich, der theuren Preise wegen, an
Creme der Literaten wie Goethe oder des chronisch schwachen Buchmarkts, Bücher kaufen denken konnten, haben
Schiller, sondern auf die Tatsache, dass glaubt Höffner, verspielte die Kolonial- nach und nach eine kleine Bibliothek mit
in Deutschland eine unvergleichlich große macht England innerhalb eines Jahrhun- Nachdrucken zusammengebracht“, notier-
Masse an Lesestoff produziert wurde.“ derts ihren Vorsprung – während der te der Historiker Heinrich Bensen verzückt.
Höffner hat die frühe Blütezeit des rückständige Agrarstaat Deutschland Die Aussicht auf eine breite Leserschaft
Gedruckten hierzulande beleuchtet und mächtig aufholte und bis 1900 zur eben- motivierte vor allem Wissenschaftler, ihre
kommt zu einem überraschenden Befund: bürtigen Industrienation aufstieg. Forschungsergebnisse zu verbreiten. „Eine
Anders als in den Nachbarländern Eng- Noch verblüffender mutet die Ursache völlig neue Form der Wissensvermittlung
land und Frankreich habe sich in Deutsch- an, die Höffner für diese Entwicklung aus- setzte ein“, analysiert Höffner.
land im 19. Jahrhundert eine beispiellose gemacht hat: Ausgerechnet das Copy- Außer der mündlichen Überlieferung
Explosion des Wissens vollzogen*. right, das die Briten bereits 1710 einge- durch einen Lehrmeister oder Gelehrten
Deutsche Autoren schrieben sich da- führt hatten, ließ nach seiner Ansicht die an der Universität kannte die damalige
mals die Finger wund. Allein im Jahr 1843 Welt des Wissens im Vereinten König- Zeit kaum Wege der Verbreitung von neu-
erschienen etwa 14 000 neue Publikatio- reich veröden. en Erkenntnissen. Nun kursierte im Land
nen – gemessen an der damaligen Bevöl- In Deutschland hingegen scherte sich plötzlich eine Vielzahl anspruchsvoller
kerungszahl, war das fast schon heutiges lange Zeit niemand um Autorenrechte. Abhandlungen.
Preußen führte das Urheberrecht 1837 So meldete das „Literatur-Blatt“ 1826:
* Eckhard Höffner: „Geschichte und Wesen des Ur-
ein. Doch wegen andauernder Kleinstaa- „Die größte Menge von Schriften handelt
heberrechts“. Verlag Europäische Wirtschaft, München; terei war das Gesetz im Reich zunächst von Naturgegenständen aller Art, und vor-
436 Seiten; 68 Euro. kaum durchzusetzen. züglich von der praktischen Anwendung
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